COUNT-DOWN (Monodrama) von Christo Bojtschew Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Text beginnt mit meinem Erscheinen auf der großen weiten (bulgarisch: ?weißen?, d.h. ?Tag?welt) Welt. Ich war 98 Jahre alt und gerade aus dem Jenseits zurückgekehrt, alt und krank; doch mit jedem Tag ging es mir besser und besser... Wenn Sie noch nicht mitbekommen haben sollten, wie der Hase läuft, dann möchte ich es Ihnen schlicht und einfach sagen: rückwärts läuft er ? der ganze Lauf der Dinge von hinten nach vorn. Die Zeit hatte ihren Endpunkt erreicht, und nun lief sie wieder zurück. Wie es genau dazu gekommen war, wusste keiner... Die Welt erwartete ungeduldig das Erscheinen Stephen Hawkings, der kurz vor der Zeitenwende gestorben war. Irgendwann tauchte er auf in seinem Behinderten-Rollstuhl, aber auch er konnte keine Erklärung liefern. Er wurde von Tag zu Tag jünger und seine Kenntnisse nahmen fortlaufend ab... Auch andere Gestalten aus meiner Generation tauchten auf: Michael Jackson, Madonna, Mick Jagger... Viel Volk kam aus den Gräbern, und es wurden immer mehr. Die Welt drehte sich mit voller Kraft, wenn auch im Rückwärtsgang. Findige Geschäftsleute aus dem Show-Biz begannen mit dem Kartenvorverkauf für die Kreuzigung Jesu Christi. Hitzköpfige Phantasten beschrieben die Wiederkehr Hitlers, Görings, Lenins u.a. Und ich wurde einfach nur immer jünger. Nach jedem Herzanfall oder Infarkt ging es mir besser... Aber nicht alles war so, wie es sein sollte. Jeder konnte in den alten Zeitungen nachlesen, was ?morgen? geschehen würde. Das nahm dem Leben seinen Sinn. Die Menschen bekamen allmählich einen ?Prädestinationskomplex?. Der lähmende Frust über diese Gewissheit führte zur Aggressivität, die Aggressivität zu massenhaften Zerstörungen. Anschließend begann die zweite Phase des offenen zivilen Ungehorsams: Wir überfielen institutionelle Einrichtungen, verbrannten die Archive und öffentlichen Bibliotheken. Dann waren die Kulturdenkmäler an der Reihe. Doch ? alles war vergeblich; der ganze Prozess der Zerstörung war vergeblich: an jeder Stelle, an der wir etwas zerstörten, stand auf einmal ein älteres Gebäude. Doch nach 30-40 Jahren verblassten die Erinnerungen an die Zukunft und der Gedächtnisfaden riss. Neue Generationen traten auf den Plan, die bereits von nirgends mehr etwas über sich in Erfahrung bringen konnten, und so erlosch auch diese Revolution. Gottlob verschwanden schon bald auch die Computer. Die Zukunft gehörte den Schreibmaschinen! Und die avantgardistischsten Schriftsteller, munkelte man, schrieben bereits mit Federhaltern. ... Im Jahre 1975 begann der Vietnamkrieg. Die Vietnamesen sammelten das Napalm im Dschungel auf und warfen es gegen die amerikanischen Flugzeuge, die es zurück in die USA flogen. Dort wurde es recycelt und wieder zu Öl gemacht, an die Araber zurückgegeben, und die erstatteten den Amerikanern die Abermilliarden Dollar, die sie dafür bezahlt hatten. Amerika gewann immer, egal in jeder Richtung die Zeit lief... ... am 9. Mai 1945 erklärte Deutschland seine Kapitulation; der Zweite Weltkrieg begann. Nach neun Tagen erstand Hitler wieder auf wie Phoenix aus der Asche und begann, die Russen aus Europa fortzustoßen. Das ging so weiter bis zur Schlacht von Stalingrad, dann setzte der Rückzug ein. Die Russen vertrieben die Deutschen im sogenannten Blitzkrieg und drängten sie bis an die Grenze der Sowjetunion zurück. Die Deutschen kehrten heim, kamen allmählich wieder zu Verstand und Europa erhielt sein vergleichsweise idyllisches Vorkriegsantlitz wieder zurück. Millionen lebende Skelette kamen aus den Konzentrationslagern, nahmen rasch zu und gaben sich wieder dem Leben hin. Die erwartete Krise infolge des demographischen Boom nach dem inversen Holocaust trat nicht ein, weil die meisten Juden in Deutschland ihr Auskommen hatten oder sogar vermögend waren. Die Kriege in diesem retrograden Megachronos waren nicht furchtbar, denn sie zerstörten nicht, sondern bauten auf. Der schlimmste Zerstörer, meine Damen und Herren, war die Zeit selbst. Sie löschte alles vom Erdboden aus im selben Moment, in dem es geschaffen wurde. Kathedralen, Brücken und Monumente verschwanden plangemäß zur festgesetzten Zeit und Stunde. In der Literatur war es nicht anders. Im Jahre 1955 verschwand Nabokovs ?Lolita? und nahm unter ihrer zarten Achsel gleich den ?Herr der Ringe? mit fort. Drei Jahre früherspäter, 1952, sahen wir zum letzten Mal eine Vorstellung von Becketts ?Warten auf Godot?... Ein Blick auf die historische Zeittafel ergab, dass im Jahre 1605 auch die Todesstunde des unsterblichen ?Don Quijote? schlagen würde. Ich ging zu den Denkern meiner Epoche: Sartre, Heidegger, Jaspers, um ihnen meine Verzweiflung mitzuteilen, aber sie waren allesamt mehr als beschäftigt mit der Sinngebung des Sinnlosen. Schließlich gelangte ich zu Albert Camus, der nach seinem tödlichen Autounfall im Jahre 1967 gerade auf die Welt gekommen war. Camus dachte nach, wiegte langsam den Kopf und sagte: ?Da kann man nichts machen ? das Absurde ist allmächtig.? Also sprach das Genie zu mir. Danach gab es niemanden mehr, mit dem ich mich hätte austauschen können, und so wandte ich mich an Gott mit der Bitte um eine Antwort. Da Gott aber niemandem etwas erwidert, musste ich mir selber Antwort geben. ... Im Jahre 1926 ging auch ?Winnie the Pooh? (Pooh der Bär) von uns. Für das Jahr 1912 wurde die romantischste Katastrophe aller historischen Zeiten erwartet: In der Nacht des 15. April tauchte der in zwei Teile zerbrochene Schiffsrumpf der ?Titanic? majestätisch aus den Tiefen der eisigen Fluten des Nordatlantiks auf... Und 1904 gab es die letzte Vorstellung von Tschechows ?Kirschgarten?. Ja, die Zivilisation machte sich so langsam von dannen, meine Damen und Herren... ... Und so wie der unheilbar Kranke zu allem bereit ist, so stand auch ich auf einmal vor der Pyramide ? nur dort stand die Zeit still und in ihrem steinernen Schoß ruhten alle Geheimnisse dieser Welt... Starr und steif vor Kälte trat ich am Morgen wieder ins Freie. Ich schaute mich um: eine tausendjährige Zivilisation, erbaut von Abermillionen Toten. Sie würden leben, die Zivilisation aber sterben. Ich schaute zur nachdenklichen Statue der Sphinx, die alle Geheimnisse kannte und begriff: Die Leute sterben ? und hinterlassen Zivilisation; die Leute sterben nicht ? die Zivilisation verschwindet. Der Tod ist das Schöpferische... ? 2006 Christo Bojtschew ? 2006 der Übersetzung aus dem Bulgarischen: Thomas Frahm (Duisburg/Sofia)